Faszination des Nordens
Wenn noch in dieser Woche eine Umfrage in einem x-beliebigen Tauchclub abgehalten würde, welches denn das beliebteste Tauchziel der einzelnen Mitglieder sei, so käme wahrscheinlich als nicht ganz überraschendes Resultat dieser Befragung heraus, dass die überwiegende Mehrheit die Korallenriffe tropischer Regionen bevorzugt. Wo sonst auch ist das Wasser so klar und angenehm warm, wo sonst schwimmt der Taucher auch gewissermaßen in einer Fischsuppe, wo sonst erlebt er das Abenteuer pur in der Gestalt einer Begegnung mit Haien und Mantas! Und ich muss gestehen, dass auch ich gerade als Fotograf immer wieder aufs Neue der Faszinationen eines Korallenriffs erliege.Dennoch, ich liebe ebenfalls die Abwechslung, im Bewusstsein, dass die Korallenmeere nur einen Teil der Gesamtwasseroberfläche unseres Planeten ausmachen. Schon das Mittelmeer, das wir immer noch als unser Hausmeer bezeichnen, bietet für mich immer stets genügend Anreize, um dort gelegentlich wieder abzutauchen. Die Fauna ist gewiss nicht so opulent, weniger bunt und interessant ist sie jedoch keineswegs. Ja, die Beschränktheit in der Masse lässt dem Fotografen die Muße, sich voll auf seine Motive konzentrieren zu können. Was hier für Tauchziele wie Malta oder Korsika gesagt wird, gilt sicherlich nicht weniger für Madeira oder Lanzerote im südlichem Ostatlantik.
Seien wir jedoch noch ein wenig couragierter und wagen den Sprung nach Nordeuropa, nach Mittelnorwegen oder gar nördlich des Polarkreises, auf die Lofoten und Vesteralen. Für die meisten Taucher erscheint dies sicherlich nicht als eine verlockende Alternative zum Tauchurlaub auf den Malediven. Gewiss, es gehört schon eine gehörige Überwindungskraft dazu, sich in dieses teilweise eiskalte Abenteuer zu stürzen. Bereits im Oktober kann es dort schneien, die Tage werden kürzer, und selbst im Sommer, wenn die Tage kein Ende nehmen, übersteigen die Wassertemperaturen kaum 8 Grad Celsius. Aber ich kann versichern, für denjenigen, der tatsächlich einmal etwas Anderes, Außergewöhnliches erleben möchte, werden sich die Anstrengungen, die mit einer Reise in den hohen Norden verbunden sind, auf jeden Fall lohnen. Tauchen in Norwegen hat bei uns inzwischen auch einen Namen: Strömsholmen, die kleine Insel, an der Schärenküste Hustadvika und am Ausgang des VevangFjords auf halber Strecke zwischen Molde und Kristiansund gelegen. Das Innere dieses Fjords stellt sicher zusammen mit den weiter draußen im offenen Meer liegenden Felseninseln das Toptauchgebiet in ganz Skandinavien dar.
Direkt schon vor der Tauchbasis von Strömsholmen ist alles das zu finden, was das Herz eines Unterwasserfotografen begehrt: Seeigel mit kurzen und langen Stacheln, Eisseesterne, Sonnensterne und purpurne „Plätzchen“Sterne. Auf den sich hin und her wiegenden Blättern der Laminarien sind Schnecken mit und ohne Gehäuse, Moostierchen, Manteltiere und andere „primitive“ Kreaturen zu entdecken. An Fischen mangelt es ebenfalls nicht. Auf dem Sandboden sind Plattfische und Drachenköpfe zuhause, Seenadeln, Lippfische und kleine Dorsche verstecken sich im Algenwald. Nachts ist hier schließlich die Zeit der Krabbeltiere: Garnelen, Seespinnen, Trollhummer, Haar- und Schlangensterne turnen auf Nahrungssuche durch die Gegend, wie auch im Frühherbst die winzigen nordischen Tintenfische unterwegs sind.
Abenteuerlich ist eine Tauchfahrt im Vevangstrom. Bei auflaufendem Wasser springen die Taucher jenseits der Brücke, welche die Insel mit dem Festland verbindet, vom Boot aus in den Gezeitenstrom, und zurück geht es in den Fjord, mal langsamer, mal schneller, vorbei an Dorschschwärmen und entlang der mit gelben Weichkorallen dekorierten Felswände. Die Fahrt endet dann sicher direkt vor der Tauchbasis, nachdem man vielleicht sogar an einem auf dem Boden liegendem Seeteufel oder Seewolf vorbei getrieben ist. Tief schneidet der Vevang-Fjord in das Landesinnere ein. An seinen Steilwänden geht es auch unter Wasser noch einige hundert Meter in die Tiefe. Dort auf 40 Meter abzusteigen, ist ein besonderes, wenn auch für den ungeübten Taucher nicht ganz risikofreies Unterfangen. In der oberen Region hat sich ein Dschungeldickicht unterschiedlichster Wasserpflanzen ausgebildet, ein ideales Siedlungsgebiet für primitives tierisches Leben. Weiter unten in der Tiefe werden die Wände kahler, ein manchen Stellen ragen jedoch weiße Weichkorallen, „Blumenkohlkorallen“ genannt, in die Dunkelheit des Fjords.
Bei ruhigen Witterungsverhältnissen, die auch im Herbst und Winter über einige Zeit andauern können, geht es hinaus vor die Küste zu den Schäreninseln. Einige dieser Felsen im Meer sind Refugium für Seevögel und sogar für Seehunde. Letzteren wird man mit etwas Glück durchaus schon einmal unter Wasser begegnen können. Ein unvergleichliches Erlebnis ist es auch, durch enge Felsschluchten zu schweben, deren Wände von farbenfrohen Weichkorallen, Seeanemonen und Schwämmen bewachsen sind, oder sich einfach einmal in den Dschungel der ausgedehnten Laminarienwälder in den Dschungel der ausgedehnten Laminarienwälder fallen zu lassen. Als Zugabe gibt es da draußen im offenem Atlantik noch jede Menge Wracks in unterschiedlichsten Tiefen, teils direkt nebeneinander oder schon einmal direkt übereinander. All dies ist kaum eine halbe Stunde vom Ufer entfernt.
Ganz Norwegen hat eine Gesamtküstenlänge von einigen zigtausend Kilometern, und sicherlich gibt es ebenso viele lohnende Tauchplätze zwischen dem Oslo-Fjord im Süden und dem Nordkap. Nördlich des Polarkreises auf der Höhe von Narvik und den Lofoten allerdings haben Tauchexkursionen schon eher einen reinen Expeditionscharakter, besonders ab Oktober, wenn schon fast winterliche Temperaturen herrschen und die Sonne nur noch im flachen Bogen über dem Horizont erscheint und nur noch für wenige Stunden Tageslicht spendet. Dennoch bietet gerade jetzt die nordische Natur unter wie über Wasser dem Wagemutigen einmalige Schauspiele und abenteuerliche Erlebnisse. Kaum zu beschreiben ist das Farben- und Lichtspiel, das sich über den Bergen zeigt und sich auf der Wasseroberfläche widerspiegelt und sich bei klarem Himmel auch des Nachts in den Kaskaden des Nordlichts fortsetzt. Wer nun glaubt im nur 4Grad warmen Wasser wäre kein Leben mehr möglich, der irrt sich gewaltig. Alles das, was wir weiter im Süden bereits angetroffen haben, treffen wir auch hier wieder an.
Die Steilwände der Fjorde und die zahllosen Wracks sind erstaunlich bunt bewachsen und von vielfältigsten Lebewesen bewohnt. Doch der absolute Höhepunkt ist zweifellos die Begegnung mit den Orcas, den bis zu 8 Meter langen Schwertwalen, die alljährlich im Herbst zu Hunderten den Heringsschwärmen in den Tyskfjord folgen. In kleinen
Gruppen jagen sie ihre Beute, treiben sie mit heftigen Schlägen ihrer Schwanzflosse zusammen, bevor sie dann ihre Malzeit verspeisen. Trotz ihres schlechten Rufs als „Killerwale“ sind sie scheue Tiere, und ein Zusammentreffen unter Wasser bleibt meist ein glücklicher Zufall, der einem am ehesten noch beim Schnorcheln an der Oberfläche vergönnt ist. Es sind grandiose Lebewesen, und selbst eine nur äußerst kurze Begegnung mit ihnen zählt ganz gewiss zu den Höhepunkten im Leben eines Tauchers.
Arnd Rödiger
Ehrenmitglied im TC Delphin Taunusstein